Die Visegrad-Gruppe unter dem polnischen Vorsitz
Anfang 2021 feierte die Visegrad-Gruppe (V4) ihr 30 jähriges Bestehen. Diese alleine könnte schon als ein Erfolg gewertet werden. Denn mit dem NATO- und EU-Beitritt der V4: Polen, Ungarn, Tschechiens und der Slowakei sind die zwei wichtigsten Ziele erreicht worden. Seit dem pendelt die V4 zwischen informellem Austausch und harter Interessenvertretung. Dank der Intensivierung der inneren und äußeren Beziehungen unter der polnischen Präsidentschaft, entwickelt sich das V4-Format allen Differenzen zum Trotz stetig zu einem handlungsfähigen Akteur.
Am 15. Februar 1991 trafen sich der polnische Präsident Lech Walensa, der tschechoslowakische Präsident Vaclav Havel und der ungarische Präsident Josef Antall in Visegrad, um die Visegrad-Gruppe zu gründen, die mit der Teilung der Tschechoslowakei 1993 zu einer Vierergruppe wurde (V4). Die V4-Gruppe ist ein innereuropäisches regionales Kooperationsbündnis nach dem Vorbild des Nordischen Rates (Nordic co-operation) und der Benelux-Union. Mit dem NATO- und dem EU-Beitritt der V4, 1999 und 2004, sind die beiden Hauptziele der V4 erfüllt worden.
Mit dem EU-Beitritt setzte ein ökonomischer Aufholprozess der Visegrad-Staaten ein, der bis heute andauert. Das BIP der V4 stiegt seit 2004 deutlich stärker als das durchschnittliche BIP der EU-15 Staaten.
Gleichzeitig leiden sowohl Polen, als auch die anderen V4-Mitglieder unter einer starken Fachkräfteabwanderung. Seit 2010 haben jährlich über 2 Millionen Polen das Land verlassen. Dies liegt vor allem an den deutlich niedrigeren Löhnen in Polen. Die beliebtesten Zielländer sind Deutschland und Großbritannien.
Seit 2018 sinkt die Anzahl der Ausreisewilligen, da sich die beruflichen und ökonomischen Perspektiven in Polen stetig verbessern. In Ungarn, Tschechien und der Slowakei lässt sich sogar ein Einwanderungssaldo beobachten.
Polens Rolle in Europa
Die V4-Gruppe umfasste bei ihrem EU-Beitritt 2004 ca. 64 Millionen Einwohner. Innerhalb der V4 spielt Polen eine besondere Rolle. Mit seinem Beitritt wurde Polen mit ca. 38,4 Millionen Einwohner zum fünftgrößten Mitgliedstaat der EU. Die drei übrigen V4-Mitglider hatten bei ihrem EU-Beitritt kumuliert ca. 25,7 Millionen Einwohner. Aus seinem europäischen Selbstverständnis heraus verfügt Polen über einen ausgeprägten Gestaltungswillen innerhalb der EU. Aufgrund der geographischen Nähe und des historischen Kontextes stehen vor allem die ehemaligen Sowjetrepubliken Belarus und Ukraine im Zentrum polnischer Außenpolitik. Warschau möchte die beiden Staaten möglichst eng an die EU binden, um sie dem Einfluss Russlands zu entziehen. Diese außenpolitischen Ziele verfolgt Polen seit 2009 primär im Rahmen der Östlichen Partnerschaft. Eine weitere Schwerpunktregion der polnischen Außenpolitik bildet der Westliche Balkan.
Seit der Regierungsübernahme durch die PiS verschlechterten sich die Beziehung Polens zu einigen westeuropäischen Mitgliedstaaten, insbesondre zu Deutschland und den Beneluxstaaten. Aufgrund der Ost-West Spannungen verlieren Formate wie das Weimarer-Dreieck, das 2021 ebenfalls sein 30 jähriges Jubiläum feiert, an Bedeutung für gemeinsame europäische Initiativen.
V4 ein innereuropäischer Machtblock?
Bei der Visegrad-Gruppe handelt es sich um ein informelles Bündnis. Es existieren nur wenige institutionelle Strukturen. Im Jahr 2000 wurde der Internationale Visegrad-Fonds gegründet, der von allen V4-Mitgliedern finanziert wird und geneinsame Projekte fördert. Seit 2015 gibt es ein Visegrad Patent Institut und 2016 wurde erstmals temporär befristet eine Visegrad Kampfgruppe aufgestellt.
Um auf der EU-Ebene das eigene Gewicht zu erhöhen, nutzt sowohl Polen als auch Ungarn die V4-Gruppe. Mit 108 Sitzen im EU-Parlament haben die V4 mehr Sitze als Deutschland (96) oder Frankreich (79). Im Rat der EU repräsentieren die V4 14,22 Prozent der Bevölkerung. Damit hat die V4 zwar keine Sperrminorität im Rat der EU bei Entscheidungen, die mit quantifizierter Mehrheit gefällt werden. Doch wird in besonders sensiblen Politikfeldern wie z.B. der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik oder den EU-Finanzen (mehrjähriger Finanzrahmen) noch immer das Einstimmigkeitsprinzip im Rat der EU angewendet. Dadurch können die V4-Mitglieder ihre Interessen im Rat der EU wahren.
Die Gemeinsamkeiten der V4 finden sich vor allem in der Außenpolitik, der Energie- und Sicherheitspolitik und der Finanzpolitik. Der Erfolg der engen Abstimmung der V4 zeigte sich sowohl bei der Blockade einer gemeinsamen europäischen Flüchtlingspolitik, als auch bei der Blockade des mehrjährigen Finanzrahmens. Dabei ist es vor allem Polen und Ungarn gelungen, sowohl eine europaweite Verteilung der Flüchtlinge zu verhindern, als auch die Verknüpfung der EU-Finanzmittel an strenge Rechtstaatlichkeitsprinzipien abzumildern, bzw. zu verzögern. Polen und Ungarn schützen sich gegenseitig vor Sanktionen aufgrund ihrer Rechtsstaatlichkeitsverstöße, da hier auch das Einstimmigkeitsprinzip angewendet wird.
In den Bereichen der Russland- und Chinapolitik liegen die Interessen der V4 wiederum zum Teil weit auseinander.
Um sich neue Handlungsoptionen auf der EU-Ebene zu verschaffen, versuchen Polen und Ungarn zusätzlich zum V4 und V4+ neue Formate zu etablieren. Dazu zählt vor allem das Bucharest Nine Format und die Drei-Meere-Initiative, die seit 2015 die mitteleuropäische Zusammenarbeit stärken sollen und bei denen bis auf Österreich kein weiterer EU-17 Staat involviert ist. Die Formate sollen den Ausbau der Beziehungen zu den Staaten des Westlichen Balkans und Osteuropas fördern, und dabei die besonderen Perspektiven der V4 berücksichtigen. Hierbei wird vor allem der Internationalen Visegrad Fonds genutzt, um gemeinsame Projekte in diesen Regionen anzustoßen.
Unterschiedliche Haltungen zur EU schwächen die V4
Das grundsätzliche Problem der V4 ist die unterschiedliche Haltung zur EU. Bisher hat nur die Slowakei den Euro im Jahr 2009 eingeführt. Sowohl Polen und Ungarn, als auch Tschechien lehnen die Einführung des Euros mittel- bis langfristig ab. Darüber hinaus möchten Polen und Ungarn die EU-Organe aus ihrer Innenpolitik heraushalten. Insbesondere beim Thema Rechtsstaatlichkeit liegen beide Seiten weit auseinander. Ungarn und Polen präferieren eine Union der Vaterländer mit bestimmten regionalen Kooperationsfeldern und lehnen eine politische Union (Ever Closer Union), wie sie vor allem von Deutschland und den Benelux-Staaten präferiert wird, ab. Entsprechend konnten Ungarn und Polen sowohl eine strikte Bindung der EU-Finanzmittel an die Einhaltung der Rechtstaatlichkeitsprinzipien, als auch eine EU-weite Verteilung von Flüchtlingen verhindern. Darüber hinaus verhinderte Ungarn mit seinem Veto gemeinsame Erklärungen im Rahmen der Gemeinsamen EU-Außenpolitik zu Israel und China.
Die Grenzen der V4
Noch immer sind die V4 hochgradig von EU-Fördermitteln und westeuropäischen Direktinvestitionen abhängig. Alleine Polen erhielt seit seinem EU-Beitritt zwischen 2004 und 2020 ca. 190,8 Mrd. Euro. Gleichzeitig zahlte es 61,4 Mrd. Euro ein. Damit hatte Polen EU-Fördermittel in Höhe von fast 130 Mrd. Euro erhalten, mit denen über 282.000 Projekte bezuschusst wurden.
In der Finanzperiode 2014-2020 bekam Polen 72,9 Mrd. Euro an EU-Finanzhilfen im Rahmen der Kohäsionspolitik und 28,5 Mrd. Euro an Agrarhilfen. Damit wurden 90.263 Projekte unterstützt. Polen war dadurch der größte Profiteur der EU-Finanzhilfen der Finanzperiode 2014-2020. Im aktuellen Finanzrahmen 2020-2027 werden es voraussichtlich 76 Mrd. Euro alleine an Kohäsionsmitteln sein.
Auch bei den privatwirtschaftlichen Investitionen ist Polen auf Investitionen aus Westeuropa angewiesen. Seit 2003 haben sich die ausländischen Direktinvestitionen mehr als vervierfacht und überschreiten seit 2017 jährlich die 200 Mrd. Euro Marke.
Zu den größten Investoren gehörten 2019 die Niederlanden, Deutschland, Luxemburg und Frankreich. Aus diesen vier Staaten stammten über 60 Prozent der ausländischen Direktinvestitionen in Polen.
Auch in ihrer Außenpolitik liegen die V4 zum Teil sehr weit auseinander. Insbesondere im Umgang mit Russlands verfolgen die V4 sehr unterschiedliche Strategien. Während Polen und Tschechien eine russlandkritische Politik verfolgen, kooperieren Ungarn und die Slowakei mit Moskau in einigen Bereichen. Vor allem im Bereich der Energiepolitik und bei der Bewertung der Nord Stream 2 liegen Polen und Ungarn weit auseinander.
Was bleibt von der polnischen Präsidentschaft?
Am 01.07.2020 begann die einjährige polnische V4-Präsidentschaft unter dem Motto: „Wieder auf Kurs“. Dabei definierte die polnische Regierung vier Hauptziele:
- Starke V4 in einem starken Europa
Stärkung des Einflusses der V4 durch eine enge Abstimmung auf der EU-Ebene. Ausbau der Zusammenarbeit im V4+ Formaten.
- Zurück zur Normalität
Zusammenarbeit im Kampf gegen die COVID-19 Pandemie.
- Zwischenmenschliche Kontakte
Ausbau der gesellschaftlichen Kontakte innerhalb der V4 hin zu einer stärkeren Integration.
- Digitale V4 e-V4
Zusammenarbeit im digitalen Sektor
Daraus wurden drei Handlungsfelder abgeleitet. Im Handlungsfeld Wirtschaft und Konnektivität versuchte Polen in den Bereichen des Mehrjährigen Finanzrahmens, der Kohäsionspolitik, der Gemeinsamen Agrarpolitik, der Klimapolitik, der Energie- und Industriepolitik die Interessen der V4 Mitglieder und weiterer EU-Partner zu synchronisieren, um frühzeitig auf der europäischen und globalen Ebene Einfluss nehmen zu können. Auf dem Feld der Konnektivität sollte die digitale, als auch die traditionelle Infrastruktur innerhalb und außerhalb der V4 (Nord-Süd-Projekte/Donau-Oder-Elbe-Projekte) stärker koordiniert und ausgebaut werden.
Das zweite Handlungsfeld umfasste die Sicherheitspolitik. Auch hier sollten zunächst einmal gemeinsame V4-Positionen ausgearbeitet werden. Mittelfristig soll die Verteidigungsfähigkeit der V4 ausgebaut und harmonisiert werden. Das schließt sowohl gemeinsame Forschung und Waffenbeschaffung, als auch die Aufstellung einer neuen V4-Battle-Group im Jahr 2023 ein. Ein weiterer Schwerpunkt umfasste die Migrations- und Asylpolitik und die Grenzsicherung. Polen bemühte sich darüber hinaus um eine stärkere Einbindung der Staaten der Östlichen Partnerschaft und des Westlichen Balkans in die europäischen und transatlantischen Sicherheitsarchitekturen.
Das dritte Handlungsfeld umfasste die Gesellschaftspolitik. Auch hier stand die Ausarbeitung gemeinsamer Positionen zu den unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen (Gesundheitspolitik, Kultur- und Sozialpolitik, etc.) im Vordergrund.
Unter der polnischen Präsidentschaft hat der Austausch innerhalb der V4 und V4+ deutlich an Intensität zugenommen. Polen Fokus lag auf der östlichen Partnerschaft, dem Westlichen Balkan, der NATO Sicherheitspolitik und der transatlantischer Zusammenarbeit. Darüber hinaus gab es im Rahmen des V4+ Formates gemeinsame Erklärungen zur Asylpolitik im Kontexte der Grenzsicherung und der Agrarpolitik im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik. Auch der europaweite Mindeststeuersatz wurde thematisiert. Eine weitere Erklärung betraf einer Stärkung der Atomkraft als Klimaneutrale Energieform in der EU. Hierbei ist es gelungen den französischen Präsidenten Emmanuel Macron als Unterstützer zu gewinnen. Sowohl in Frankreich, als auch in der Slowakei werden aktuell Kernkraftwerke gebaut. In Ungarn, Polen und der Tschechischen Republik befinden sich Kernkraftwerke in Planung.
Um die Staaten der Östlichen Partnerschaft bei der Bekämpfung der COVID-19 Pandemie zu unterstützen, haben die V4 2020 den „V4 East Solidarity Programm“ für die Region gestartet. Das Programm hat ein Volumen von 250.000 Euro. Damit sollen Regionalprojekte bis zu 12 Monate lang finanziell unterstützt werden.
Die V4 eine Erfolgsgeschichte mit Hemmnissen
Rückblickend betrachtet erweist sich der V4-Zusammenschluss als Erfolg für die beteiligten Staaten. Der V4-Gruppe ist sowohl der EU-, als auch in die NATO-Beitritt gelungen. Seit ihrem Beitritt nutzen die Mitglieder das V4-Format, um gestalterisch in ihrer Nachbarschaft tätig zu sein. Dabei spielen der Internationale Visegrad Fonds und das V4+ Format eine zentrale Rolle. Zwischen 2000 und 2018 unterstütze der Internationale Visegrad Fonds mit fast 88 Millionen Euro regionale Projekte zwischen den V4-Staaten und den Staaten der Östlichen Partnerschaft und des Westlichen Balkans. Gleichzeitig wird das V4+ Format innereuropäisch genutzt, um Themen gemeinsam mit europäischen Partnern auf die EU-Agenda zu setzen.
Auf der Plattform Thing Visegrad vernetzen sich die nationalen V4-Think-Thanks, um das V4-Format weiter zu entwickeln.
Gleichzeitig existiert keine umfassende strategische Partnerschaft innerhalb der V4. Es werden immer nur gemeinsame Partikularinteressen mit einer mittelfristigen Reichweite verfolgt. Dabei kann das V4-Format aufgrund der skeptischen Haltung Polens und Ungarns zur EU nicht seine volle Wirkung entfalten. So lange die PiS-Regierung in Polen und die Fidesz-Regierung in Ungarn die Kompetenzen der EU-Ebene auf ein Mindestmaß beschneiden möchten und sich gleichzeitig von den europäischen Werten entfernen, wird die V4 Gruppe deutlich unter ihrem Potenzial agieren müssen.