Während sich die deutschen Medien mit der Aufarbeitung des Unfalls der Costa Concordia, den „sprudelnden“ Steuereinnahmen, der Korruption im Vatikan und der Affäre um Bundespräsident Wulff beschäftigen, gibt es in Polen zur Zeit nur ein Top-Thema: die Unterzeichnung des ACTA-Abkommens.
Bei ACTA (Anti-Counterfeiting Trade Agreement) handelt es sich um ein Handelsabkommen auf völkerrechtlicher Ebene, welches internationale Maßstäbe in der Bekämpfung von Urheberrechtsverletzungen und Produktpiraterie setzen soll. Das ACTA-Abkommen ist dabei eine Weiterentwicklung anderer internationaler Abkommen und soll die internationale Kooperation, die Abstimmung des Gesetzesvollzuges und die Gesetzeslage in Bezug auf die Verwertung von geistigem Eigentum verbessern. Auch soll ein internationales Gremium geschaffen werden, welches die Einhaltung des Vertrages beaufsichtigt und über mögliche Änderungsvorschläge berät. Die Verhandlungen über das neue Abkommen, an denen einige der weltgrößten Volkswirt-schaften wie die USA, Japan und die EU mit ihren Mitgliedsstaaten teilgenommen haben, wurden seit Juni 2008 geführt. Besonders brisant ist, dass die Verhandlungen nicht öffentlich waren und sich somit das Abkommen bis vor Kurzem der öffentlichen Meinung entzog.
In Polen ist die Medienlawine Mitte letzter Woche hereingebrochen und beherrscht seit dem die Berichterstattung. Nahezu jedes Interview mit einem Politiker beschäftigt sich mit diesem Thema; der Flugzeugabsturz in Smolensk ist damit marginalisiert worden.
Begonnen hat das Medienspektakel mit ersten Berichten über die anstehende Unterzeichnung des ACTA-Abkommens am 26. Januar 2012. Diese kamen für alle überraschend, zumal die Regierung keine breiten Konsultationen mit Interessensgruppen durchgeführt hat. Nichtregierungsorganisationen haben Alarmgeschlagen, da sie durch die Unterzeichnung des Abkommens die Meinungsfreiheit im Internet gefährdet sehen. Internetaktivisten der Gruppe Anonymous haben daraufhin am letzten Sonntag wichtige staatliche Internetseiten blockiert: künstlich wurden so viele Zugriffe auf die Seiten geschaffen, damit diese für normale Nutzer nicht mehr zugänglich ist. Der Regierungssprecher Pawel Gras hat daraufhin gesagt, dass hierbei wohl kaum von einer Hackerattacke gesprochen werden kann. Laut Gras kann die Situation eher mit einem sehr großen Interesse an den Regierungsseiten verglichen werden: Die Seite der UEFA war auch nicht zu erreichen zu Beginn des Verkaufs von Karten für die Europameisterschaft 2012.
Während die Attacken auf die Regierungsseiten weiter gingen, hat sich diesen Montag der für das Abkommen zuständige Minister Michal Boni in einem Fernsehinterview für die mangelnden öffentlichen Konsultationen entschuldigt. Am Dienstag hat sich Gras für seine unglückliche Formulierung entschuldigt. Mittwoch dann hat Premierminister Donald Tusk auf einer Pressekonferenz seine Absicht bekräftigt, das ACTA-Abkommen zu unterzeichnen. Tusk sagte auch, dass es keine Zugeständnisse im Angesicht von brutaler Erpressung geben kann. Tusk gab des Weiteren an, dass die Intention der Regierung in keinster Weise die Begrenzung der Freiheit im Internet ist: Es sollen nach der Unterzeichnung von ACTA weitere Konsultationen erfolgen, in denen alle Befürchtungen aufgegriffen werden sollen. Donnerstag hat die polnische Botschafterin in Japan Jadwiga Maria Rodowicz-Czechowska das ACTA-Abkommen unterzeichnet.
Während der Auseinandersetzungen haben sich alle Oppositionsparteien gegen die Unterzeichnung des Abkommens ausgesprochen. Die größte Oppositionspartei im polnischen Parlament Recht und Gerechtigkeit (PiS) fordert ein Referendum. Die Reaktion der Opposition ist umso verwunderlicher, da im Europaparlament Mitglieder aller polnischen Parteien, außer der Linken, für das Abkommen stimmten. Und die Kontroverse geht weiter. In den letzten Tagen sind einige Tausend junge Menschen in vielen polnischen Städten auf die Straßen gegangen und haben gegen das ACTA-Abkommen und gegen Zensur im Internet demonstriert. Eine große Kundgebung findet heute Abend in Warschau statt. Fragt sich nur, wann die Proteste nach Deutschland überschwappen.