EM – und alles andere vergessen

Die EM kam, sah und siegte; so die kurze Zusammenfassung des allgemeinen Zustandes in der polnischen Gesellschaft. Vieles ist gut gelaufen, einiges kann kritisiert werden, aber eines ist sicher: Was vor der EM war, ist längst schon wieder vergessen. Und nach der EM kommt alles in die gewohnten Bahnen zurück.

Infrastruktur/Stadien

Vor der EM sind Befürchtungen, gerade unter den Oppositionsparteien, laut geworden, dass viele Infrastrukturprojekte nicht rechtzeitig fertig werden. Zweifel kamen sogar auf, ob die Stadien für die Spiele bereitstehen werden.

Größtenteils konnten diese Befürchtungen wiederlegt werden. Die Stadien in Polen und auch in der Ukraine waren vor dem ersten Anpfiff bereit; was nicht von allen, teilweise sehr ambitionierten, Projekten berichtet werden kann. Auf einer Pressekonferenz hat Jaroslaw Kaczynski, Vorsitzender der größten Oppositionspartei (Recht und Gerechtigkeit, PiS), von einem „Zivilisationssprung“ gesprochen, der in Bezug auf die Infrastruktur erreicht werden sollte, allerdings nicht erreicht worden sei. So habe die seit 2007 in Koalition mit der Bauernpartei (PSL) regierende Bürgerplattform (PO) erst angekündigt, 4.000 Kilometer Schnellstraßen und Autobahnen zu bauen. Danach seien diese Pläne immer weiter nach unter korrigiert worden, erst auf 3.000 Kilometer und dann auf 1.700 Kilometer. Und am Ende seien 600 Kilometer gebaut worden.

Public Viewing

Nach dem das Public Viewing bei der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland eingeführt wurde, scheint es sich zu einer festen Institution entwickelt zu haben. So wurden in vielen großen und kleinen Städten der zwei Gastgeberländern Polen und Ukraine Orte des kollektiven Fußballguckens eingerichtet. Die größte Fanmeile der EM-Austragungsländer befand sich im Zentrum von Warschau. Auf dem Plac Defilad wurden sechs Leinwände und eine große Tribüne mit Sitzplätzen aufgebaut; insgesamt fanden ca. 100.000 Fans gleichzeitig Platz auf der Fanmeile; über die gesamte EM hindurch waren fast 1,3 Millionen Fans da. Die Fanmeile in Kiew haben insgesamt ähnlich viele Fans besucht.

Fankultur

Befürchtungen wurden laut, dass es in den Stadien gefährlich werden könnte; in Polen sind Ligaspiele bekannt für Gewaltexzesse sowie fremdenfeindliche und antisemitische Äußerungen und Plakate auf den Stadiontribünen. Dazu hat die BBC Ende Mai 2012 einen Fernsehbericht gesendet, der laut Aussagen in den polnischen Medien ein verzerrtes Bild der Fankultur in Polen und der Ukraine zeige. Unter dem Titel “Stadiums Of Hate” wurde die Szene der treusten Fans, der sogennanten Ultras, analysiert und aufgearbeitet.

Bis auf wenige kleine Zwischenfälle haben sich die Befürchtungen jedoch nicht bestätigen können. Der größte Zwischenfall ereignete sich im Vorfeld des Gruppenspiels Polen-Russland in Warschau. Die russischen Fans wollten gemeinsam vor dem Spiel zum Stadion marschieren. Dabei kam es zu gewalttägigen Auseinandersetzungen zwischen polnischen und russischen Fans, weswegen der Marsch vor dem Stadion aufgehalten wurde.

Politische Konflikte

Der politische Kampf ist in Polen eine sehr gepflegte Tradition, die seit einigen Jahren immer weiter entwickelt wird. Eine Verhärtung der Fronten zwischen der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), die Frontalopposition betreibt, und allen anderen Parteien hat seit dem Flugzeugunfall bei Smolensk stattgefunden. Dabei sind im April 2010 der polnische Präsident und 95 weitere wichtige Personen aus Politik und Gesellschaft tragisch ums Leben gekommen.

Überraschend war daher der einseitige Friedensvertrag, den Kaczynski angeboten hat – und das ohne jede Bedingung. Die gesamte EM über hat der angekündigte Frieden gehalten. Das führte dazu, dass sich die Öffentlichkeit fast ausschließlich auf die Fußballspiele konzentrierte.

Der Frieden hielt jedoch nicht lange und erst kürzlich hat Kaczynski einen Vorgeschmack auf die Zeit nach der EM gegeben. Während in der polnischen Öffentlichkeit die EM fast einstimmig als Erfolg gewertet wurde, sagte Kaczynski, dass es sich um eine totale Niederlage der polnischen Regierung handele.

Politische Vorhaben vor der EM

Vor der EM abgeschlossenen und für die Bevölkerung meist schmerzhaften Vorhaben sind in Vergessenheit gelangt. Auch das war ein Erfolg der EM und der Regierung. So wurde kurz vor Beginn der EM ein Gesetz vom polnischen Präsidenten Bronislaw Komorowski unterschrieben, welches das Rentenalter von Männern um 2 Jahre und das von Frauen um 5 Jahre schrittweise anhebt. Die Reform der Alterssicherung ist seit langem umstrittenste Gesetz. Das erste Mal in der Geschichte ist der Sejm durch Mitglieder der Gewerkschaft Solidarnosc abgeriegelt worden, als die Abgeordneten endgültig über das Gesetz entschieden. Weitere umstrittene Reformen betrafen das Gesundheitswesen und die Deregulierung von bestimmten Berufen.

Insgesamt…

Insgesamt ergibt sich nach der EM ein gemischtes Bild. Vieles ist gelungen und einiges nicht. So konnten nicht alle Infrastrukturprojekte abgeschlossen werden, aber die für die EM wichtigen Projekte wie Stadien und entscheidende Autobahnverbindungen konnten realisiert werden. Die EM selbst ist mit wenigen Ausnahmen friedlich verlaufen und wohl fast alle Fans sind zufrieden in ihre Heimatländer zurückgekehrt. Für Polen ganz untypisch: Politische Konflikte bestanden in dieser Zeit fast gar nicht. Und trotz sehr umstrittener Reformen hat die polnische Regierung an Popularität zugelegt. So hat eine CBOS-Umfrage ermittelt, dass die polnische Regierung im Juli einen Zustimmungswert von 30 Prozent erreichte, was 3 Prozentpunkte mehr sind als im Vormonat Mai.